Sensibilität macht Stark

Warum die Zuschreibung “Du bist einfach zu sensibel!” missbräuchlich ist und wie du damit umgehen solltest.

“Du schlägst die Autotür immer so laut zu!” Mit diesen Worten hat sich mein Mann neulich bei mir beschwert. Und ohne wirklich darüber nachzudenken und auch mehr als Spaß, antwortete ich ihm: “Ach, du bist einfach nur zu empfindlich!”.

Nachdem ich diese Worte, die ich selbst schon von so vielen Menschen gehört habe, ausgesprochen hatte, wurde mir das erste Mal die weitreichende Bedeutung dieses Satzes “du bist zu sensibel” bewusst! Und was die Person, die sie ausspricht, eigentlich über sich selbst preisgibt.

“Zu sensibel, zu empfindlich”, ein Totschlagargument, dass die Auseinandersetzung im Keim erstickt

“Du bist einfach nur zu empfindlich.” oder “Du bist zu sensibel!” sind Totschlagargumente, die in den Bereich der schwarzen Rhetorik gehören. Sie sind der anderen Person gegenüber respektlos und gewaltsam.

Wenn ich als Antwort auf eine Kritik oder einen Verbesserungswunsch “Du bist einfach zu empfindlich!” ausspreche, dann bedeutet das, dass ich mich nicht auseinandersetzen möchte. Aber es geht sogar noch darüber hinaus, denn ich möchte ja nicht einmal die Realität der anderen Person anerkennen. Ich sage damit aus: Es gibt nur eine Wahrheit und das ist meine Wahrheit, Punkt – keine Diskussion.

Jetzt könnte man denken: Dann schlägt die Person halt die Autotür zu laut zu. Ist ja jetzt nicht so dramatisch und was ist schon dabei? Missbräuchliches Verhalten ist wohl etwas anderes!

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Die Form der Zuschreibung an sich hat einen limitierenden Charakter

Unabhängig vom Inhalt ist die Form hier entscheidend. Denn der Inhalt lenkt uns häufig von der Form ab, so dass wir im Alltag bestimmte Zuschreibungen und Arten der Kommunikation eher akzeptieren. Wenn es dann um ein ernsthaftes Thema geht, verstehen wir nicht, warum es so schwierig ist, sich in der Situation zur Wehr zu setzen.

Daher möchte ich dieses Prinzip an einem weiteren Beispiel aus dem beruflichen Coaching zeigen, dass etwas dramatischer ist.

Ein*e hochsensible*r Klient*in, ich mache die Person an dieser Stelle zur Frau und gebe ihr den Namen Henrietta, hat etwas Ähnliches im Beruf erlebt. Sie hatte Arbeitskollegen mit herabsetzenden Aussagen anderen Kolleginnen gegenüber konfrontiert. Diese Aussagen waren teilweise sexistisch und auch rassistisch gewesen.

Ein Arbeitskollege hatte daraufhin meiner Klientin gegenüber vorgeworfen, andere nicht so zu respektieren, wie sie nun mal seien. (Täter-Opfer-Umkehr) Und ein weiterer Kollege hatte dem hinzugefügt: “Ich weiß, du bist ja so empfindlich, dann sage ich sowas in deiner Gegenwart einfach nicht mehr.”

Natürlich war meine Klientin vollkommen perplex und wusste nicht, wie sie mit diesen Aussagen umgehen sollte.

Viele hochsensible Menschen erleben unangenehme Zuschreibungen über ihre Empfindsamkeit im beruflichen und privaten Umfeld

Unabhängig von diesem ernsthaften Beispiel, machen die meisten meiner hochsensiblen Klient*innen die Erfahrung von Zuschreibungen, wie: “Du machst alles immer viel zu kompliziert.“, “Du bist immer so sensibel.“, “Du bist einfach nur zu empfindlich.”, “Du denkst zu viel.“, “Du bist zu nett.“ Diese Zuschreibungen erleben sie im privaten und im beruflichen Kontext.

Besonders für Menschen, die bereits in Kindheit und Jugend mit diesen Killerphrasen konfrontiert wurden, sind solche Aussagen wie ein Schlag in die Magengrube. Es löst viele Gefühle aus: Schmerz und Trauer, über eine fehlende Zugehörigkeit und ein nicht verstanden werden, gehen häufig damit einher. In solchen Situationen ist es dann schwer, sich zu wehren. Auch bei Henrietta hat der Satz, ‘sie sei einfach zu empfindlich’, dazu geführt, dass ihr plötzlich die Worte fehlten und sie sich selbst in Frage stellte. Wie dem also begegnen?

Den manipulativen Charakter der Aussage “du bist zu sensibel” analysieren und sich den gesellschaftlichen Kontext vergegenwärtigen

Zuerst empfehle ich, sich den manipulativen Charakter dieser Aussagen anzusehen.
“Du bist einfach zu sensibel” als Antwort auf Fehlverhalten bedeutet, dass die andere Person sich mit ihrem Verhalten nicht auseinandersetzen will. Dieser Satz akzeptiert keine Diversität in Wahrnehmungen und Meinungen. Es lässt keine Möglichkeit zur Auseinandersetzung oder Reflexion zu. Die Aussage, die dahinter steht, ist: ich bestimme, dass das, was ich sage oder wie ich gehandelt habe, richtig ist. Es zeigt auch die Faulheit der Person sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

“Sind sie zu stark, bist du zu schwach.”
Empfindsamkeit, Sensibilität, Nachdenklichkeit und Vorsicht werden in unserer extrovertierten Gesellschaft mit Schwäche assoziiert. Und die Anwender dieser Zuschreibungen machen sich diese Assoziation zunutze. Der Satz ”Bist du aber sensibel!” hat eine unglaubliche Kraft, da er auf den Boden der Stereotype von Schwäche in unserer Gesellschaft trifft.

Die innere Haltung von Stärke bewahren und der eigenen Wahrnehmung vertrauen

Es ist wichtig, sich diese Stereotype bewusst zu machen, um in der Situation, in der wir hochsensiblen Menschen mit solchen negativ gemeinten Zuschreibungen konfrontiert werden, die Haltung zur eigenen Stärke zu bewahren. Denn häufig passiert es auch, dass sich hochsensible Menschen in solchen Situationen fragen: “Bin ich zu emotional?”, “bin ich zu sensibel für die Arbeitswelt?”, “Oder reagiere ich womöglich (wieder) über?” Diese Überlegungen sind mit der Grundfrage verbunden: Hatten womöglich alle Menschen Recht mit ihrer Aussage, dass meine Wahrnehmung oder meine Emotionalität oder meine Art zu denken nicht richtig ist.

Im Fall von Henrietta, haben wir herausgefunden, dass diese unangemessenen Aussagen unangemessen bleiben, unabhängig davon, ob meine Klientin nun hochsensibel oder zu empfindsam oder was auch immer ist. Und das ist häufig der Fall bei dieser Art von Totschlagargument. Denn es lenkt vom Thema ab.

Henrietta entschied sich, die Kollegen erneut mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren. Dafür suchte sie sich Rückendeckung im Team und hielt sich die Möglichkeit offen, gegebenenfalls die Diskriminierungsbeauftragte des Unternehmens einzuschalten. Um diesen Weg gehen zu können, haben wir einen Satz erarbeitet, der ihr eine innere Antwort auf die Zuschreibung. “Du bist ja so empfindlich” gibt und diese entkräftet.

Worauf du achten solltest, wenn du negative Zuschreibungen, wie “du bist zu sensibel” für dich selbst positiv umformulieren möchtest

Wer für sich selbst negative Zuschreibungen neu formulieren möchte, sollte darauf achten, dass diese positiv und aktiv formuliert sind. Ihre Wirkung sollte mindestens neutral sein, ein gutes Gefühl hervorrufen und zu einem inneren Aufatmen führen. Wichtig ist, dass die neue Formulierung nicht zum Gegenteil der negativen Zuschreibung wird, sondern diese im positiven Sinne enthält. Ein Beispiel dafür könnte sein, dass aus dem Satz: “Du bist zu empfindlich!“ der für dich positive Satz entsteht: “Ich bin empfindsam!”

Welchen tieferen Sinn und welche Gefühle wir mit Worten verbinden, ist individuell sehr verschieden. Achte daher bei der Wahl deiner Worte stets darauf, was ein Satz bei dir persönlich auslöst.

Der Gewinn deiner Hochsensibilität für dein Team

Was für ein Glück es ist, empfindsame Kolleg*innen im Team zu haben, die auf Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Disharmonien frühzeitig reagieren und ausgleichend wirken können.

Du kannst auch selbstbewusst sagen: “Ja, ich bin empfindsam und deswegen kann ich dir sagen, dass deine Aussagen verletzend für mich und andere sind.“ Oder: “Ja, ich bin emotional, dieses Thema ist so wichtig, dass dies auch angebracht ist.” So hast du die Möglichkeit, die Zuschreibung zu neutralisieren.

Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, wie du deine Hochsensibilität als Stärke sehen kannst, lies auch meinen Artikel „Hochsensibilität als Stärke“

Gefühle ermöglichen Raum für Begegnung und persönliche Entwicklung

Letztlich ist es auch ganz unabhängig davon, ob eine Person zu viel denkt, es zu kompliziert macht, zu sensibel, zu nett oder zu empfindlich ist:
Wenn eine Person sich durch die Aussagen oder das Verhalten einer anderen Person verletzt, gedemütigt oder diskriminiert fühlt, dann ist immer eine ernsthafte Auseinandersetzung angebracht.

Hier finden wir auch die Potenziale für echte Begegnung, Verständigung und Wachstum im Miteinander. Alle Parteien müssen dafür offen sein. Denn natürlich ist es auch nicht richtig, die eigene Hochsensibilität wie ein Schutzschild vor sich herzuhalten, um keine Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Dies ist ein anderes Thema.

Eine Zuschreibung hat eine sehr machtvolle Wirkung. Beobachte dich:

  • Wann nutzt du Zuschreibungen anderen Menschen gegenüber, die nicht im Einklang des Miteinanders und der Konfliktlösung sind? Wie könntest du zukünftig stattdessen reagieren?
  • Und wann wirst du sprachlos, weil andere mit Zuschreibungen dir gegenüber ihre Aussagen oder ihr Verhalten wegreden wollen? Wie reagierst du dann?
  • Wie oft hindern dich innere Zuschreibungen daran, deine Möglichkeiten voll auszuschöpfen?

Du möchtest Zuschreibungen in Bezug zu deinen hochsensiblen Gaben auflösen?

Lerne, wie du negative Überzeugungen neu formulieren kannst, um in schwierigen Situationen in deiner Stärke zu bleiben. In meinem Kurs “Entdecke die Stärke deiner Hochsensibilität” erfährst du, wie du negative Zuschreibungen für dich integrieren und sie als Stärke erleben kannst.

In einem persönlichen Coaching für Hochsensible hast du die Möglichkeit, deine Situation mit mir zusammen zu analysieren und eine individuelle Lösung für schwierige Situationen zu finden. Damit du missbräuchliche Situationen entlarven und selbstbewusst deine Werte vertreten kannst.

Herzlichen Glückwunsch, du hast eine einzigartige Gabe - die Hochsensibilität.

Ich bin Lore Sülwald und unterstütze dich gerne dabei, deine Hochsensibilität als Stärke zu erleben und ein authentisches Leben als hochsensibler Mensch zu führen. In meinem Coaching gibt es kein Standardkonzept. Gemeinsam entwickeln wir auf Augenhöhe individuelle Lösungen, die zu dir passen. Wir finden deinen roten Faden und lösen gemeinsam, was im Moment noch kompliziert erscheint.

Meine Vision ist eine Gesellschaft, die mehr Sensibilität zulässt.

Ich wünsche mir, dass Menschen ihre Wahrnehmung und Intuition selbstbewusst leben können. Hochsensibilität bedeutet für mich: Kompetenz, Kraft und Kreativität.

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